Rückblick auf die Geschehnisse am 16.05.2021

21. Mai 2021


Am vergangenen Montag haben wir in einer ersten Stellungnahme die Aufarbeitung der Ereignisse rund um das Spiel der SG Dynamo Dresden gegen Türkgücü München vom 16.05.2021 angekündigt. Die Hintergründe der Eskalationen sind vielfältig. Die folgenden Ausführungen stellen für uns keine abschließende Bewertung dar, sondern sollen vielmehr Ausgangspunkt für weitere Analysen gemeinsam mit verschiedenen relevanten Akteuren, z.B. Verein, Fans, Polizei und Stadt, dienen.

Folgende Dinge erscheinen uns wichtig:

Spieltagsvorbereitung

Die coronabedingten Einschränkungen im Profifußball haben insbesondere für (junge) Fans zahlreiche negative Auswirkungen mit sich gebracht. Für viele von ihnen ist ein wichtiger Teil ihrer Lebenswelt hierdurch „weggebrochen“. Seit Monaten sind Stadionerlebnisse und selbst das gemeinsame Fußballschauen in Kneipen oder im Privaten nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich.
Darüber hinaus haben sich aber auch langjährig eingespielte Abläufe rund um ein Fußballspiel im Profibereich verändert. Die im Nationalen Konzept Sport und Sicherheit vorgesehenen Netzwerke zwischen Vereinen, städtischen Institutionen, Polizei und Fanprojekten funktionieren aktuell nicht in den etablierten Strukturen. Eine Folge hiervon ist, dass auch die Spieltagsvorbereitung in Anbetracht des seit Mai 2020 laufenden sogenannten „Sonderspielbetriebs“ andere Wege gegangen ist. Mit Blick auf die besondere Situation rund um die Begegnung am 16.05.2021 hätten hier aber wieder die bewährten Instrumente umfänglich genutzt werden sollen.

Unserer Erfahrung nach kann eine Eskalation wie die am vergangenen Sonntag begünstigt werden, wenn das professionelle Netzwerk rund um den Spieltag nicht funktioniert. Durch die jahrelange, erfolgreiche Zusammenarbeit aller lokalen Akteure sind seit 14 Jahren Szenen wie die vom vergangenen Sonntag in Dresden nicht zu sehen gewesen.
Rund um das Spiel gegen Türkgücü München hat die Kommunikation aller Netzwerkpartner nicht ausreichend funktioniert: So hat es etwa nicht, wie sonst üblich, bereits am Dienstag eine Sicherheitsbesprechung mit allen Institutionen gegeben. Stattdessen gab es Gespräche in einem kleineren Kreis zwischen Verein, Polizei und der Landeshauptstadt Dresden. Alle beteiligten Institutionen haben nach konstruktiven Lösungen gesucht, coronakonforme und rechtlich zulässige Gelegenheiten für das Feiern eines möglichen Aufstieges zu finden, welche allerdings aufgrund der aktuellen Gesetzeslage nicht umsetzbar waren.

Da aktuell nachvollziehbares Unverständnis darüber geäußert wird, dass bspw. in Rostock Fanansammlungen oder gar Stadionbesuche ermöglicht werden, die in Sachsen verboten sind, ist an der Stelle der Blick auf die unterschiedliche Ausgestaltung der Corona-Schutz-Verordnungen in den Ländern zu richten. Laut der Verordnung in Mecklenburg-Vorpommern kann dort zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung eine solche Veranstaltung genehmigt werden. In Sachsen konnten die Behörden aufgrund der anderen Rechtslage eine solche Veranstaltung offenbar nicht genehmigen. Dies ist ein kleines, aber wesentliches Detail, welches einen anderen Umgang mit der Situation in Dresden ermöglicht hätte. Einerseits mussten die Behörden geltende Rechtsvorschriften durchsetzen, andererseits war sehr wahrscheinlich, dass eine relevante Zahl von Fans das Stadionumfeld aufsuchen wird. Dies hat auch die Polizei in ihrer Medieninformation vom 11.05.2021 vorhergesehen. Die Versuche der SG Dynamo Dresden, diese zu erwartende Ansammlung in geeigneter Form zu kanalisieren, wurden aufgrund der rechtlichen Bestimmungen abgelehnt. Dieses Dilemma konnte schlussendlich nicht sinnvoll aufgelöst werden, wenngleich eine geordnete und abgestimmte Aktion zum Feiern der Mannschaft wohl zu einem sichereren Verlauf der Tages geführt hätte.

Eine umfassende Sicherheitsbesprechung aller Beteiligten – auch mit uns – hat erst am Freitag vor dem Spiel stattgefunden. In Folge dessen veröffentlichte die SG Dynamo Dresden am Abend des 14.05.2021 „Wichtige Informationen zum Spiel“.
Durch eine lange Zeit ausbleibende bedarfsgerechte Kommunikation aller professionellen Akteure (Verein, Stadt, Polizei, Fanprojekt etc.) an die Öffentlichkeit, konnte sich in der Woche vor dem Spiel innerhalb sozialer Netzwerke eine enorme Erwartungshaltung zum Spieltag hin entwickeln. Dieser wurde nicht widersprochen, sie steigerte sich in verschiedenen Online-Kanälen und fand ihre Bestätigung durch vereinzelte informelle Aufrufe und Ankündigungen. Leider ist es nicht gelungen, frühzeitig Klarheit zu schaffen, dass öffentliche Feierlichkeiten aufgrund der gesetzlichen Regelungen derzeit verboten sind. Es gab zu lange keine relevanten Gegenstimmen, die auf mögliche Sicherheitsaspekte beim Aufsuchen des Stadionumfeldes hinwiesen. Für Frustration sorgte bei vielen Fans zudem die Verlegung des Spiels von Samstag auf Sonntag. Der Spieltag und das Stadionumfeld wurden somit attraktiv für vielfältigste Milieus.

Abläufe am Spieltag

Bereits seit dem frühen Vormittag gab es einen ständigen Zustrom verschiedenster Gruppen in unterschiedlichen Personenzahlen zum Stadionumfeld. Darunter befanden sich Familien mit Kindern, Kuttenfans, erlebnisorientierte und Event-Fans, Schaulustige sowie Tagesausflügler, die unabhängig vom Fußballspiel den Großen Garten aufsuchten.
Diese Masse von ca. 4.000 bis 5.000 Menschen sah sich einem erheblichen Polizeiaufgebot von 1.100 Einsatzkräften gegenüber. Die Lennéstraße war vor dem Stadion zwischen Lennéplatz und Helmut-Schön-Allee/Hauptallee vollständig mit Einsatzwagen abgesperrt. Personen, die das Stadionumfeld aufsuchten, wurden in den Großen Garten oder Richtung Hygienemuseum geleitet. Der größte Teil dieser Menschenmenge befand sich auf der Hauptallee im Großen Garten, aber auch zerstreut auf den umliegenden Wiesen sowie an den Gaststätten Torwirtschaft und Wachstube.
Vorschriften der Corona-Schutz-Verordnung (Mund-Nasen-Bedeckung, Abstand) wurden nur bedingt eingehalten, worauf die Polizei mit regelmäßigen Durchsagen per Lautsprecher reagierte. Diese Durchsagen waren jedoch nach ca. 50 Metern in den Großen Garten hinein nicht mehr zu vernehmen. Die Fans verfolgten das Spiel über mobile Endgeräte. Bis zum 3:0 für die SGD in der 62. Spielminute (also ca. 15:25 Uhr) war die Stimmung ausschließlich positiv. Ausgelassen feierte die Menschenmasse in Anbetracht des nahenden Aufstieges.

Kurz nach dem 3:0 zogen einige Fans, aus dem Bereich der Torwirtschaft kommend, durch den Großen Garten in Richtung des alten Trainingsgeländes, um sich dort zu sammeln und die Mannschaft mit koordinierter Stimmung zu unterstützen. Diese Absicht war für die begleitende Polizei jedoch nicht klar ersichtlich. Dieser Gruppe schlossen sich binnen kürzester Zeit mehrere hundert Personen an. Aus dieser Menge heraus separierte sich eine kleinere Gruppe und bewegte sich in Richtung Stadion. Dort wurden die Polizeikräfte und Einsatzwagen, die den Bereich Lennéstraße absperrten, mit Pyrotechnik und Flaschen beworfen. In der polizeilichen Medieninformation 291/2020 ist in diesem Zusammenhang von einen „Durchbruchsversuch“ die Rede.

Auf diesen Angriff reagierte die Polizei mit einer Änderung der Einsatzstrategie. Von der Lennéstraße kommend bewegte sich eine Vielzahl von Einsatzkräften entlang des Trainingsgeländes auf die dort angrenzende Wiese in den Großen Garten hinein. Durch Gebüsche und Bäume war die Gesamtsituation zudem für alle Beteiligten unübersichtlich. Dort wurden die Polizeikräfte von einzelnen Personen mit Pyrotechnik angegriffen, woraufhin diese mit dem Einsatz von Pfefferspray und dem Abschießen von Tränengaskartuschen reagierten. Diese Maßnahmen richteten sich entsprechend vieler Augenzeugenberichte unvermittelt gegen alle Personen, die sich dort befanden und nicht nur gegen einzelne, aggressive Fans. Während viele Menschen in Panik flüchteten, verbündeten sich etliche Fans miteinander gegen die Polizei. Diese gruppendynamische Solidarisierung schien einige Polizeikräfte zu überraschen, welche unvorbereitet und hektisch reagierten. Nach anfänglichem Zurückweichen vor den vorrückenden Einsatzkräften kam es allmählich zu einer Gegenbewegung von Fans, die zum Teil mit Flaschen- und Pyrowürfen in Richtung der plötzlich aufgetauchten Einheiten einherging.
Weitere Einsatzkräfte rückten aus verschiedenen Richtungen nach. Unter anderem fuhr ein Wasserwerfer, begleitet von etlichen Polizeieinheiten, von der Lennéstraße aus in die Hauptallee hinein. Dieses Vorrücken wurde von vielen Menschen als unbegründetes, aggressives Polizeiverhalten empfunden. Es gab für die meisten Fans keinen erkennbaren Grund für das kompromisslose Vorgehen. Vom Einsatz des Wasserwerfers und dem Tränengas waren eine große Zahl Dritter und unbeteiligter Fans, die im Bereich der Hauptallee feierten – also fernab der Geschehnisse am alten Trainingsgelände – betroffen. Das polizeiliche Handeln wirkte willkürlich und war für die allermeisten Fans nicht nachvollziehbar. Diese Situation hat die Solidarisierungseffekte gegen die Polizei wesentlich verstärkt. So breiteten sich die Eskalationen aus.
Die Auseinandersetzungen verlagerten sich mit der Zeit auf die Lennéstraße in Richtung Straßburger Platz und Lingnerallee. Hier standen sich nun Polizei und eine Ansammlung Gewaltaffiner gegenüber, die ihre Aggressionen gegen die Einsatzkräfte hemmungslos auslebten. Vereinzelte Scharmützel gab es auch auf der Cockerwiese. Bis ca. 18:15 Uhr lieferten sich nun Polizei und Gewaltsuchende ein „Katz-und-Maus-Spiel“.

Im Laufe des Tages ist es zu mehreren Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten und damit auch auf die Pressefreiheit gekommen. Einer dieser Vorfälle hat sich in Gegenwart eines Mitarbeiters des Fanprojektes zugetragen, der daraufhin versuchte, den Übergriff zu unterbinden. Die in sozialen Medien kolportierten antisemitischen Anfeindungen gegenüber Medienschaffenden haben wir nicht wahrgenommen, jedoch wurde uns von einem Journalisten bestätigt, dass er von einer Einzelperson mit dem Begriff „Judenpresse“ in beleidigender Absicht tituliert wurde. Wir haben wahrgenommen, dass es am späteren Abend von einen kleinen Gruppe antisemitische Sprechchöre mit Bezug auf Hansa Rostock im Stadionumfeld gegeben hat.

Unsere Arbeit am Spieltag

Zwischen 13 und 21 Uhr war das Fanprojekt Dresden mit drei Sozialarbeitern im Rahmen der aufsuchenden Jugendarbeit im Stadionumfeld unterwegs. Wir führten zahlreiche Gespräche mit Fans und befanden uns im regen Austausch mit der Fanabteilung der SG Dynamo Dresden.
In der sich zuspitzenden Konfrontation konnten wir mittels persönlicher Ansprache einzelne Personen aus Konfliktsituationen heraushalten bzw. sprachen gezielt Menschen an, sich von den Auseinandersetzungen weg zu bewegen.
Entsprechend unserer Vereinbarung bei der Sicherheitsberatung am Freitag konnten wir uns (erkennbar durch Dienstausweise und Dienstkleidung) relativ frei durch Absperrungen bewegen. Dadurch hatten wir u.a. die Möglichkeit, verletzten Personen Zugang zu medizinischer Versorgung zu verschaffen.
Auch nahmen wir an der Sicherheitsbesprechung vor Spielbeginn teil. Neben uns waren der Sicherheitsbeauftragte und ein Fanbeauftragter der SGD, der Ordnungsdienst, die Einsatzleiterin des DRK sowie Vertreter der Dresdner Verkehrsbetriebe und der Stadion Projektgesellschaft anwesend. Die Polizei entsandte – entgegen der üblichen Vorgehensweise – keine Vertretung zur Beratung. In der Halbzeitpause erfolgte dann die zweite Besprechung aller Beteiligten, bei der dann auch die Polizei vertreten war.

Fazit

Sowohl auf Seiten der Fans als auch auf Seiten der Polizei begann der Tag vollkommen gewaltfrei. Auch wenn manche Stilmittel der Fankultur kontrovers sind, so lebten die feiernden Fans anfangs friedlich Fankultur aus, soweit dies eben außerhalb des Stadions möglich ist. Die Polizei agierte kommunikativ und zurückhaltend. Sie lieferte unserer Einschätzung nach nicht den Auslöser zur Eskalation. Der Angriff auf die Polizeikette kurz nach dem 3:0 stellt den Auftakt einer sich innerhalb von wenigen Minuten zuspitzenden Gewaltspirale dar, die beiderseits Grenzüberschreitungen in allen denkbaren Qualitäten beinhaltete: Es gab Beleidigungen, Sachbeschädigungen, körperliche Angriffe gegen Beamte. Pyrotechnik und andere Gegenstände wurden als Waffen missbraucht.
Es folgten direkte polizeiliche Gegenmaßnahmen. Dabei kam es jedoch auch zu hartem und ziellosem Vorgehen, Verweigerung erster Hilfe bis hin zu klarer Polizeigewalt.

Die an diesem Tag praktizierte Gewalt hatte zahlreiche Opfer. Insbesondere die Qualität der Verletzungen erreichte dabei ein erschreckendes Ausmaß. So ist ein junger Mann während der Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Fans zusammengebrochen und musste kurz darauf beatmet werden. Wie es dazu kam, ist uns nicht bekannt. Zudem mussten verletzte Einsatzkräfte aus dem Geschehen herausgetragen werden.
Die Anzahl von Verletzten bei der Polizei ist mit 185 konkret benannt worden. Zudem wurden mindestens 44 verletzte Fans von der Rettungsleitstelle bekannt gegeben. Diese löste am Spieltag einen sog. MANV (=Massenanfall von Verletzten) aus, damit weitere Rettungskräfte zur Unterstützung alarmiert werden konnten. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten verletzte Personen nicht adäquat versorgt werden. Wir haben gemeinsam mit der Fanabteilung der SGD versucht, eine angemessene Hilfestellung zu gewährleisten. Da es keine gesammelte Erfassung ziviler Opfer gibt, könnte die Dunkelziffer der Verletzten um ein Vielfaches höher liegen. Es gab außerdem vier angegriffene Presseteams, darunter der in verschiedenen Medien thematisierte gewalttätige Übergriff auf einen 17-jährigen, mit dem wir in den Folgetagen auch im Austausch standen.

Es ist uns wichtig festzuhalten, dass jegliche Gewalt, egal ob gegen Medienschaffende, Fans, Dritte oder Polizei, völlig inakzeptabel ist. Darüber hinaus kann, darf und wird es kein entschuldigendes oder rechtfertigendes Wort in Bezug auf nur eine einzige antisemitische Äußerung geben. Die SGD, viele ihrer Fans und das Fanprojekt Dresden engagieren sich seit Jahren auf vielfältige Weise gegen Antisemitismus und andere Formen menschenfeindlicher Einstellungen.

Der Prozess der Auseinandersetzung mit den Abläufen und offenen Fragen ist komplex. Er verteilt sich auf viele Schultern: von Verein, Fans aller Couleur, über Stadt und Polizei, bis hin zu uns. Jetzt, da sich „der Staub legt“, tritt eine mühsame und zeitintensive Aufarbeitung in Gang. Diese muss das Ziel haben, eine Wiederholung derartiger Ereignisse auszuschließen.

Die Nachwehen der Ausschreitungen bringen Rufe nach neuen Konzepten und Maßnahmen mit sich. Wir möchten dem entgegenhalten, dass die gelingende Entwicklung am Standort Dresden im letzten Jahrzehnt mit den bestehenden Konzepten auf Grundlage professioneller Netzwerkarbeit und mit Einbindung von Fangruppen gut funktioniert hat. Wir appellieren an alle Netzwerkpartner, sich auf diesen hohen Standard zurückzubesinnen, sowohl in der Nachbereitung dieses Spieltages als auch in Vorbereitung aller künftigen Spiele.

Für uns sind trotz sorgfältiger Analyse des Tages eine Reihe von Fragen bislang ungeklärt. Diese betreffen den Zweck der Absperrung des Stadionbereiches, den breiten Einsatz von Tränengas, die Kommunikationsstrategie im Vorfeld und im Nachgang des Spiels sowie das mehrheitliche Ausblenden des Infektionsschutzes, zu dessen Einhaltung im Vorfeld in einem klugen Text auch die Schwarz-Gelbe Hilfe aufgerufen hatte.